unraum
Virtualismus, der: philos. Meinung, nach der die Wirklichkeit nur aus der Wirkung von Kräften (und Gegenkräften) erkannt werden kann
Virtualität, die; -, -en: 1. innewohnende Kraft od. Möglichkeit 2. (vom Computer) vorgespiegelte räumliche Scheinwelt
virtuell: der Kraft od. Möglichkeit nach vorhanden (aber nicht immer wirklich existierend)
funktion: hallraum, erbaut 1935, im keller des ORF funkhauses, diente lange zeit ausschließlich der analogen erzeugung von akustischen raumeffekten: man schickte das signal in den raum hinab, projizierte es dort via lautsprecher und nahm den hall (die reaktion des raumes) mit mikrophonen wieder auf. vor fast drei jahrzehnten wurde der gebrauch des raumes durch die möglichkeiten der elektroakustik überflüssig. seither steht er leer.
das wesentliche qualitätsmerkmal eines hallraums wird durch die linearität der signalbearbeitung beschrieben. d.h. als ideal gilt, wenn der raum auf sämtliche frequenzbereiche gleich reagiert, also das signal nicht durch verstärkung bestimmter klangaspekte verfremdet. derartige verfremdungen drängen sich beim unraum auf, sind hier vor allem in den randzonen des hörbereichs leicht zugänglich: das helle, scharfe säuseln der schritte ist ebenso wahrnehmbar wie das raumerfüllende/körperfühlende beben des türschlags. in seiner ursprünglichen funktion waren diese „fehler“ kaum von bedeutung: durch die reaktion des raumes wurde das einströmende signal vor allem mit nachhall (und damit verbundenen raumpsychologischen merkmalen) versehen. stellt nun aber bereits das einströmende signal die raumreaktion dar, kommt es zu interferenzen, resonanzen, stehenden wellen und anderen phänomenen. bei wiederholter projektion dieser raumreaktion bilden sich allmählich komplexe, raumchaotische strukturen aus.
unraum wird zum instrument, zur gratwanderung an den grenzen auditiver wahrnehmungsfähigkeit, gemessen an den spezifischen eigenschaften dieses seltsamen raumes. diese eigenschaften bilden schließlich den projektionsrahmen für die klanginstallation „unraum“: den prägnanten aspekten des raumes werden klangquanten entnommen, wiederholt und mit sich in ihrer mikrostruktur minimal verändernden replikationen transformiert. in der strengen zeitformalen struktur liegt einerseits der ästhetische verweis auf den in sich ruhenden charakter, die abgeschlossene historie des raumes. andererseits eröffnet diese kompositionstechnik die möglichkeit, das rauminhärente potential mit ebenso rauminhärentem material zu überwinden: von den phänomenen der akustik führt der weg hin zur psychoakustik. liefert man sich der physisch/psychischen grenzsituation aus und läßt man sich vom klangbad ganzkörperlich umspülen, werden neue räumliche ebenen, neue volumina und deren wirkungsfelder zugänglich: akustische virtualität greift um sich, überschreitet die physikalischen (raum)grenzen, dreht, spiegelt, krümmt. der hörer steht mitten im hall, wird selbst zum hallraum, zum resonanzkörper und wird durch seine raumposition/positions-veränderung teil der komposition.
weg eingang - foyer - flur - türe aus glas - schmale treppe - im keller. lange niedrige gänge, schwere lüftungsrohre, stromleitungsstränge, schlechtes licht, viele türen - eine aus stahl. geöffnet, fällt der blick in einen dunklen raum mit dichten betonwänden. eindrücke, die sich während des weges zum raum gesammelt haben und eindrücke, die der blick in den raum vermittelt, bilden ein gemisch: raum wie eine kapsel inmitten des gebäudefundaments; das gesamte haus scheint um und auf den raum zu lasten. ausdehnung zunächst scheint im raum platz zu sein. je tiefer man in ihn eindringt, desto mehr scheint er sich zu schließen, scheint er dicht zu machen. der raum, der zuvor anbot erobert zu werden, scheint verschwunden. unraum ist leer. ein raum der nicht für menschen gemacht ist. falsche proportionen. glatte wände verstärken diesen eindruck. man versucht den ort zu wechseln, den dumpfen eindrücken auszuweichen, andere blickwinkel zu finden, um luft zu erhalten, um den zustand im raum leichter zu machen. er hingegen zeigt tausend gesichter: ausschnitte, facetten, winkel, die entsprechend der beweglichkeit unserer augen, unseres gesamten körpers ständig wechseln. der raum ist leer, ohne richtung, unklar, uneindeutig. er gibt keine sicherheiten. kein gegenüber im raum, kein objekt gleicher dimension. solche objekte würden geschichten erzählen, wären anzufassen, würden umraum bilden, würden den raum in kleinere, faßbare einheiten gliedern. wände beton, glatt, fast gläsern geschliffen. glätte an sich zeigt homogenität. unter der glätte scheinen sich grauwölkchen zu rühren. struktur drängt einem entgegen. keine spur der raum wurde lediglich zur beherbergung von technischem equipment konstruiert. für seine benutzer war er als begehbarer raum nie existent, wurde nie betreten, da keine notwendigkeit bestand. so verzeichnet er keinerlei spuren menschlicher aktivität.
aufgrund der kellerlage, verwinkelter flure und offener kabelstränge ist der zugang nur innerhalb von gruppenführungen möglich.
„unraum“ ist teil eines projekt-zyklus, der material zum test psychoakustischer und psychovisueller qualitäten von räumen anbietet. so steht die installation in unmittelbarer nachfolge der ebenfalls mit dem ORF-kunstradio produzierten CD „living room music“.
© 1997 SHA.ART